Welche Wohnbedürfnisse haben obdachlose Menschen? Wie können Forschungserkenntnisse zu Kleinwohnformen für Betroffene und Entscheidungsträger/innen in der Politik und im Wohnungsbau anwendbar gemacht werden? Am Tag der Wohnungslosen präsentierten zwei Forscherinnen der Hochschule Luzern interessante Umfrageergebnisse aus Sicht der Betroffenen.
Am Tag der Wohnungslosen, am 11. September 2022, stellten die Wissenschaftlerinnen Selina Lutz und Stephanie Weiss in der deutschen Stadt Marburg die Ergebnisse einer Befragung von wohnungslosen Menschen zu ihrer Wohnsituation und ihren Wohnbedürfnissen vor.
Im Rahmen des von der Innosuisse (Schweizerische Agentur für Innovationsförderung) und dem ITC (Interdisziplinärer Themencluster der Hochschule Luzern) geförderten interdisziplinären Projekts Kleinwohnformen: Wohn- und Lebensräume mit Potenzial? fand eine Kooperation mit der Wohnungsnotfallhilfe des Diakonischen Werks Marburg-Biedenkopf in Mittelhessen statt. Parallel zur umfangreichen und repräsentativen Befragung in der Schweizer Bevölkerung zu Kleinwohnformen konzipierten die Forscherinnen einen Fragebogen, der sich direkt an Betroffene gewandt hat, um die Bedürfnisse in ihrer Lebenssituation abzuholen.
38 wohnungslose Menschen aus Marburg hatten hierfür ihre Wünsche und Vorstellungen geäussert, unter anderem zu Fragen nach Platzbedarf, Wohnqualität, Standort, Wohndauer, Infrastruktur und Mitbewohnenden. Die Umfrage ist nicht repräsentativ, jedoch werden Tendenzen erkennbar. So wohnt beispielsweise der überwiegende Teil der Personen allein und bevorzugt einen geringen oder eher geringen Austausch mit der Nachbarschaft.
Die beiden Forscherinnen der Hochschule Luzern zeigten unterschiedliche Kleinwohnformen auf, darunter auch Container, Fahrzeuge und Jurten. Eines der wichtigsten Ergebnisse stellt der grosse Bedarf an kleinen Wohnformen wie Micro-Apartments oder Clusterwohnungen dar, die den Betroffenen einen privaten, geschützten sowie gemeinschaftlich genutzten Wohnraum dauerhaft zur Verfügung stellen. Mehr als die Hälfte der Betroffenen können sich vorstellen, auch mittel- und langfristig in sehr kleinen Wohnformen (bis max. 20m2) zu leben, wie es in Marburg bereits jetzt schon in Notschlafstellen und temporär genutzten Wohnungen der Fall ist.
Zu den gewünschten öffentlichen Infrastrukturen, die in einer Distanz von max. 15 Minuten erreichbar sein sollen, stehen an erster Stelle Versorgungsmöglichkeiten des täglichen Bedarfs, Zugang zu medizinischer Versorgung und die Möglichkeit, sich in öffentlichen Räumen aufhalten und begegnen zu können. Die befragten Menschen sehen die Wohnstandorte vor allem in der Stadt oder im urbanen Umfeld. Die detaillierten Ergebnisse der Befragung wurde den lokalen Stellen zur Verfügung gestellt, um in der Planung für künftige Angebote darauf Bezug zu nehmen. Außerdem sind sie in diesem Artikel für die Öffentlichkeit abrufbar und können heruntergeladen werden.
Ausstellungscontainer «Elisabeth hat (k)ein Bett»: Informationen über das Leben von wohnungslosen Menschen an verschiedenen Standorten in der Marburger Innenstadt. |
Ausstellungscontainer «Elisabeth hat (k)ein Bett»: Informationen über das Leben von wohnungslosen Menschen an verschiedenen Standorten in der Marburger Innenstadt. |
Ausstellungscontainer «Elisabeth hat (k)ein Bett»: Informationen über das Leben von obdach- und wohnungslosen Menschen in Marburg. |
Der Ausstellungscontainer dient sonst als Notschlafstelle in der Stadt Marburg. |
Lebhafte Podiumsdiskussion mit den Anspruchsgruppen
Die Ergebnisse wurden im Anschluss an einer Podiumsdiskussion mit den Initiantinnen und Initianten der Wohnungsnothilfe, dem Oberbürgermeister der Stadt Marburg, dem Geschäftsführer der städtischen Wohnungsgesellschaft sowie mit Betroffenen und der Marburger Bevölkerung diskutiert. Dazu gehörten an jenem Tag auch etliche von Wohnungslosigkeit betroffene Männer und Frauen, die an dem Anlass mit dabei waren. Die Diskussionen zwischen den unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren war von vielen offenen Fragen zum Prozess, aber auch von gegenseitiger Wertschätzung und Verständnis geprägt. Ad hoc konnten einige Lösungen für bestehende Probleme gefunden werden.
Das Fazit aus der Diskussion ist, dass man sich in Marburg einen vertiefteren Austausch zwischen der zuständigen Wohnungsnothilfe wünscht und dass vor allem auch Personen mit psychischen Erkrankungen oder anderen schwerwiegenden Problemen schwellenlose Angebote zur Seite gestellt werden sollen. Denn Wohnungslosigkeit kommt selten allein und ist oft auch die Konsequenz einer schwierigen Lebenssituation oder schweren Schicksalsschlägen im Leben von Betroffenen.
Information zur Wohnungsnotfallhilfe Marburg
Die Marburger Wohnungsnotfallhilfe betreut Menschen, die von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffen sind, vermittelt Notschlafstellen und Wohnungen und berät präventiv, wenn eine Räumung der eigenen Wohnung droht. Sie betreut ca. 800 Klientinnen und Klienten in der Stadt und im Landkreis Marburg in Mittelhessen. Auf ihre Initiative fand der Anlass «Elisabeth hat (k)ein Bett» und die Veranstaltungsreihe zum 800jährigen Jubiläum der Stadt Marburg statt, deren Namensgeberin Elisabeth von Thüringen selbst für ihre Zeit in Marburg im Mittelalter obdachlos war.
Projekt Kleinwohnformen: Wohn- und Lebensräume mit Potenzial?
Informationen dazu finden sich hier: hslu.ch/de-ch/kleinwohnformen. Für Fragen und Anregungen stehen Selina Lutz und Stephanie Weiss sehr gerne zur Verfügung.
Von: Stephanie Weiss und Selina Lutz
Bilder: elisabeth-hat-kein-bett.de
Veröffentlicht am: 30. September 2022
Die Dozentin und Projektleiterin des Instituts für soziokulturelle Entwicklung ist Co-Lead Bachelor in Sozialer Arbeit mit Schwerpunkt neue Konzepte und Innovation.
Selina Lutz
Selina Lutz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP) des Instituts für Architektur der Hochschule Luzern.
Artikel ursprünglich veröffentlicht auf hub.hslu.ch
© Dr. Stephanie Weiss und Selina Lutz, Hochschule Luzern 2022
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